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Der Mythos vom rassetypischen Fehlverhalten: Eine tiefere Betrachtung

Aktualisiert: 21. Juni

Der Mythos vom rassetypischen Fehlverhalten – warum Hunde mehr sind als ihre Gene

Die Vorstellung, dass bestimmte Hunderassen per se zu Fehlverhalten neigen – sei es Aggression, Sturheit oder Ungehorsam –, hält sich hartnäckig in der öffentlichen Wahrnehmung. Oft heißt es: „Der ist halt so, das liegt an der Rasse.“ Doch was als scheinbar logische Erklärung daherkommt, ist in Wahrheit ein gefährlicher Irrglaube. Er führt zu Fehlentscheidungen in der Haltung, zur Stigmatisierung ganzer Rassen und letztlich zu einem schlechteren Leben für viele Hunde.

Mythos des rassetypischen Fehlverhaltens

In diesem Artikel beleuchten wir ausführlich, warum rassetypisches Fehlverhalten ein Mythos ist, wie Verhalten wirklich entsteht – und wie wir zu einer fairen, verantwortungsvollen Hundehaltung finden können.


1. Verhalten entsteht aus vielen Faktoren – nicht aus der Rasse allein


Zwar wurde bei der Zucht verschiedener Hunderassen gezielt auf bestimmte Eigenschaften geachtet – etwa Hüteverhalten, Schutztrieb oder Jagdpassion. Doch das bedeutet nicht, dass jede:r Vertreter:in einer Rasse automatisch genau so „funktioniert“. Und schon gar nicht bedeutet es, dass problematisches Verhalten fest mit einer Rasse verbunden ist.


Das Verhalten eines Hundes entsteht im Zusammenspiel aus:


  • Genetik (Veranlagung)

  • Erfahrungen in der Welpenzeit (insbesondere in der Sozialisierungsphase)

  • Umweltbedingungen (Stress, Wohnsituation, Beschäftigung)

  • Erziehung und Training


Beispiel: Zwei Hunde derselben Rasse, aufgewachsen in völlig unterschiedlichen Haushalten – der eine mit liebevoller, klarer Führung und reichlich Sozialkontakt, der andere mit Isolation und Gewalt – entwickeln vollkommen unterschiedliche Verhaltensmuster. Dasselbe gilt für Hunde, die ausreichend geistig und körperlich ausgelastet werden versus solche, die den ganzen Tag unterfordert sind.


Studien belegen:


  • Die Arbeit von Serpell (1995) zeigt, dass Hunde mit konsequenter, gewaltfreier Erziehung deutlich weniger problematische Verhaltensweisen zeigen – unabhängig von ihrer Rasse.

  • Herron et al. (2009) weisen nach, dass Hunde, die in chaotischen oder stressbeladenen Umgebungen leben, häufiger zu Angst oder Aggression neigen – nicht, weil sie einer „gefährlichen“ Rasse angehören, sondern weil sie überfordert sind.


Wichtig: Genetik legt eine Tendenz nahe – keine Garantie. Kein Hund wird aggressiv oder ungehorsam geboren.


2. Die Rolle der Genetik: Ja, aber mit Augenmaß


Natürlich lässt sich die Genetik nicht völlig ausklammern. Hütehunde wie Border Collies zeigen oft ein ausgeprägtes Bewegungs- und Kontrollverhalten. Terrier können jagdlich motivierter sein als andere Rassen. Aber auch hier gilt:


Veranlagung ist nicht Verhalten.


Ein Border Collie, der geistig gefördert, klar geführt und nicht überreizt wird, kann ein ruhiger, ausgeglichener Begleiter sein. Ein Jack Russell, der konsequent erzogen wird, lebt meist friedlich mit Kindern und Katzen zusammen. Unerwünschtes Verhalten entsteht dort, wo rassetypische Anlagen nicht berücksichtigt – oder falsch kanalisiert – werden.


Es macht also keinen Sinn, einem Hund aggressives Verhalten allein deshalb zuzuschreiben, weil er einer bestimmten Rasse angehört. Viel sinnvoller ist es, seine individuellen Bedürfnisse zu erkennen und darauf einzugehen.


3. Fehlverhalten hat Ursachen – keine Herkunft


Was genau ist eigentlich „Fehlverhalten“? Aus menschlicher Sicht ist es meist Verhalten, das uns stört, uns überfordert oder gefährlich erscheint. Doch für den Hund ist dieses Verhalten oft völlig logisch:

  • Ein Hund, der knurrt, zeigt Unwohlsein – keine Aggression.

  • Ein Hund, der an der Leine pöbelt, ist nicht dominant – sondern möglicherweise frustriert, ängstlich oder überfordert.

  • Ein Hund, der schnappt, sendet ein deutliches Signal: „Ich weiß mir nicht mehr anders zu helfen.“

Diese Verhaltensweisen sind nicht auf eine bestimmte Rasse beschränkt. Sie treten überall dort auf, wo Hunde nicht verstanden, überfordert oder falsch behandelt werden.

4. Die Gefahr von Rassenzuschreibungen

Die Vorstellung, dass „bestimmte Rassen gefährlich sind“, führt zu weitreichenden Konsequenzen – für Halter:innen und für die betroffenen Hunde:

  • Hundeverordnungen und sogenannte Rasselisten stigmatisieren Hunde aufgrund ihres Aussehens, nicht ihres Verhaltens.

  • Tierheime berichten, dass Hunde bestimmter Rassen (z. B. Rottweiler, American Staffordshire Terrier, Cane Corso) schwerer vermittelbar sind – selbst wenn sie freundlich, sozialverträglich und gut erzogen sind.

  • In einigen Ländern oder Regionen droht betroffenen Hunden sogar die Einschläferung – allein wegen ihrer Rassezugehörigkeit.

Eine Studie von Duffy et al. (2008) zeigt eindrücklich, dass Aggression bei Hunden nicht rassespezifisch ist. Stattdessen hängt sie stark mit Faktoren wie mangelhafter Sozialisation, schmerzhaften Erfahrungen oder fehlerhaftem Umgang zusammen.

5. Die Rolle der Vermenschlichung

Ein weiterer Denkfehler in der Diskussion um rassespezifisches Fehlverhalten liegt in der Vermenschlichung des Hundeverhaltens. Wenn Hunde bellen, knurren, sich zurückziehen oder wild herumspringen, neigen wir dazu, diese Verhaltensweisen mit menschlichen Maßstäben zu bewerten – z. B. als trotzig, bösartig oder hinterhältig.

In Wahrheit sind diese Verhaltensweisen Teil der hundetypischen Kommunikation. Studien (wie z. B. Hiby et al., 2004) zeigen, dass das Verhalten von Hunden stark von den Erfahrungen der ersten Lebensmonate abhängt – insbesondere davon, wie gut sie auf Umweltreize vorbereitet wurden.

Ein Hund, der gelernt hat, Menschen und Artgenossen zu vertrauen, zeigt weniger übertriebene oder „auffällige“ Reaktionen – völlig unabhängig von seiner Rasse.

6. Was bedeutet das für die Praxis?

Wenn wir Hunde nicht aufgrund ihrer Rasse bewerten, sondern als das sehen, was sie sind – individuelle Lebewesen mit eigenen Erfahrungen, Bedürfnissen und Fähigkeiten – ergeben sich daraus wichtige Konsequenzen:

  • Erziehung muss bedürfnisorientiert sein. Statt pauschale Rasseetiketten zu verteilen, sollten Halter:innen lernen, auf das Verhalten ihres Hundes einzugehen.

  • Trainer und Fachleute sollten über rassespezifische Anlagen aufklären – ohne sie als alleinige Ursache für Verhalten darzustellen.

  • Hundewesen und Tierschutz brauchen dringend eine Abkehr von Rasselisten und -verordnungen – hin zu einem verhaltensorientierten, fairen Umgang mit Hund und Mensch.

7. Was wir stattdessen sagen sollten

  • „Das Verhalten eines Hundes ist immer individuell – geprägt durch Genetik, Erziehung, Umwelt und Erfahrungen.“

  • „Es gibt keine ‚bösen Rassen‘ – nur Hunde, deren Bedürfnisse missverstanden oder ignoriert werden.“

  • „Verantwortungsvolle Hundehaltung beginnt nicht mit dem Rassestandard, sondern mit dem Verständnis für den einzelnen Hund.“

Fazit

Die Annahme, dass Fehlverhalten eine rassetypische Eigenschaft sei, ist ein überholter Mythos – wissenschaftlich nicht haltbar und ethisch problematisch. Hunde sind keine Klone ihrer Rassezugehörigkeit, sondern soziale, hochsensible Individuen mit einer beeindruckenden Lernfähigkeit. Wer ihnen gerecht werden will, sollte aufhören, in Schubladen zu denken – und anfangen, genau hinzuschauen.

Wenn wir aufhören, Hunde aufgrund ihrer Rasse zu beurteilen, eröffnen wir ihnen – und uns – die Chance auf eine wirklich partnerschaftliche Beziehung. Referenzen: Karen L. Overall (2013) 

- Manual of Clinical Behavioral Medicine for Dogs and Cats Herron et al. (2009) 

- A prospective study of the risk factors for canine aggression James Serpell (1995)

-The Domestic Dog: Its Evolution, Behaviour and Interactions with People Hiby et al. (2004)

- Dog training methods: Their use by private owners and their effectiveness for dogs’ behavior. Duffy et al. (2008) - Breed differences in canine aggression


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